Bernd Lange (SPD) ist von 1994 bis 2004 und ab 2009 ist er Mitglied des Europäischen Parlaments und seit 2014 Vorsitzender des einflussreichen Ausschusses für Internationalen Handel (INTA) im Europäischen Parlament.
Mehr europapolitische Informationen bekommen Sie im Newsletter von Bernd Lange: https://bernd-lange.de/newsletter



Lupe: Im Juni hat Deutschland den EU Ratsvorsitz für 6 Monate übernommen. Was bedeutet das und welche Schwerpunkte werden bei der Arbeit gesetzt?

Bernd Lange: Deutschland muss bis zum Ende des Jahres noch mehr als sonst Motor und zugleich Moderator in der Europäischen Union sein. Ich erwarte von der Bundesregierung neue Impulse für Europa. Das betrifft natürlich vor allem drei drängende Themen: Den EU-Haushalt, den Wiederaufbau nach Corona sowie den Brexit. Aber ein Thema, das mir als Handelspolitiker am Herzen liegt und bei dem die Bundesregierung vorangehen sollte, ist auch ein europäisches Lieferkettengesetz. Es ist Zeit, dass Menschenrechte und Nachhaltigkeit im globalen Handel nicht mehr der unternehmerischen Freiwilligkeit überlassen werden.

Wie verändert sich deine Arbeit und Rolle in dieser Zeit ganz konkret?

Als Parlamentarier begleite ich die Rolle des Europäischen Rats immer aufmerksam und auch kritisch, wenn die Debatten zu sehr in nationale Interessen zerfallen. Als Europaabgeordnete aus Deutschland stehen wir jetzt in der besonderen Verantwortung, die Arbeit der Bundesregierung zu begleiten und die Positionen des Parlaments deutlich zu machen. Das Europäische Parlament ist die einzige direkte Vertretung aller europäischen Bürger*innen und hat damit auch eine herausgehobene politische Rolle.

Bei den jüngsten Gipfeltreffen wurde zum Teil gefeilscht wie auf dem Fischmarkt

Das heißt auch, den nationalen Regierungen genau auf die Finger zu schauen. Bei den jüngsten Gipfeltreffen wurde zum Teil gefeilscht wie auf dem Fischmarkt, was zu Rückschritten bei gesamteuropäischen Anliegen wie dem Europäischen Green Deal oder der Rechtstaatlichkeit geführt hat. Hier müssen wir uns als SPD-Abgeordnete klar positionieren. Wenn die Verhandlungen über den Haushalt im September weitergehen, sollte Deutschland in seiner Vermittlerrolle doch immer die europäischen Herausforderungen im Blick behalten.

Vor März 2020 wäre wohl der nahende Brexit das beherrschende Thema dieses Interviews gewesen. Deshalb kurz zu Beginn: Der Brexit scheint zu kommen und keiner regt sich mehr auf? Was ist das derzeit wahrscheinlichste Szenario?

Ein umfassendes Abkommen, wie es die EU und das Vereinigte Königreich in ihrer politischen Erklärung im November 2019 angekündigt haben, ist sehr unwahrscheinlich geworden. In wichtigen Fragen wie den gemeinsamen Standards, dem sogenannten „level playing field“, stellt sich die britische Regierung quer und bezieht eine Position der Rosinenpickerei. Das britische Parlament als korrigierende Institution ist nahezu lahm gelegt.

Boris Johnson wird den harten Brexit durchziehen.

Es sieht also danach aus, dass Boris Johnson den harten Brexit durchziehen wird. Wahrscheinlich ist, dass es eine Reihe kleinerer Abkommen zu spezifischen Fragen, beispielsweise der Fischerei – was auch besonders für Niedersachsen relevant ist – geben wird. Wie mit den USA werden wir auch mit dem Vereinigten Königreich kein umfassendes Partnerschaftsabkommen haben. Das ist für die EU sicher kein Weltuntergang, birgt aber insbesondere für die britische Wirtschaft große Risiken. Solange es keine anderen Regelungen gibt, wird das Königreich vom Zugang zum EU-Binnenmarkt auf die WTO-Regeln zurückfallen. Das bedeutet: Zölle und Kontrollen ab 2021. Meine Prognose ist, dass Großbritannien den größten Souveränitätsverlust seiner Geschichte erleben wird. In der stürmischen See der Globalisierung können wir nur gemeinsam unseren europäischen Kurs halten, nationale Alleingänge werden sich langfristig nicht auszahlen.

Trotz Brexit überschattet die durch die Corona-Pandemie verursachte Krise alles. Ende Juli gab es dann eine Einigung der Staatschefs auf ein EU - Rettungspaket. Es war ein sehr zähes Ringen. Warum ist es so schwierig sich zu einigen?

Bei den EU-Gipfeln wurde hart um nationale Interessen gepokert. Die gemeinsame europäische Krisenbewältigung stand dabei nicht immer im Vordergrund. Das hat besonders die Hartnäckigkeit der sogenannten „sparsamen Vier“ gezeigt, die sich stärker an nationalen Wählerstimmen als an europäischen Zielen orientiert haben.

Die gemeinsame europäische Krisenbewältigung stand beim EU-Gipfel nicht immer im Vordergrund.

Diese Prioritäten haben wir als SPD-Europaabgeordneten wiederholt kritisiert. Von der Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hätten wir mehr Haltung in Fragen der Rechtstaatlichkeit und des Green Deals erwartet. Positiv ist aber, dass erstmals die gemeinsame Schuldenaufnahme der EU vorgesehen ist. Das ist allen nationalen Egoismen zum Trotz ein wichtiges Bekenntnis zur gemeinsamen Krisenbewältigung und eine große Neuerung.

Der Gipfel hat sehr deutlich die Gräben innerhalb der EU aufgezeigt u.a. auch bei dem Prinzip der Rechtsstaatlichkeit. Wie geht es mit der EU und dem Euro-Raum weiter? Brauchen wir eine neues Konzept z.B. ein "Kerneuropa" um mit der EU wieder voran zu kommen?

Die Verstöße gegen die Rechtstaatlichkeit, wie wir sie in Polen und Ungarn beobachten, sind völlig inakzeptabel. Hier erwarte ich von der EU-Kommission nicht nur eine klare Haltung, sondern auch den Mut und den langen Atem, um wirksame Mechanismen zur Durchsetzung der Rechtstaatlichkeit auf den Weg zu bringen.

Ich halte eine Trennung der EU in unterschiedliche Geschwindigkeiten für nicht zielführend.

Die Einigung der Staats- und Regierungschefs reicht dazu nicht aus: Statt eine Zwei-Drittel-Mehrheit zur Bedingungen für Haushaltskürzungen zu machen, sollte nur eine Zwei-Drittel-Mehrheit ein Veto gegen solche Maßnahmen einlegen können. Erst damit wäre die Regelung vom Kopf auf die Füße gestellt. Trotz dieser Probleme halte ich eine Trennung der EU in unterschiedliche Geschwindigkeiten für nicht zielführend. Insbesondere in Polen sehen wir eine aktive Zivilgesellschaft, die sich gegen den autoritären Umbau des Staats wehrt. Die jüngste Präsidentschaftswahl hat das belegt. Statt weiter auseinanderzudriften müssen wir die klare Kante gegenüber den nationalen Regierungen mit einer Stärkung der europäischen Demokratie verbinden. Insbesondere in der Frage des Haushalts muss das Europäische Parlament mit klaren Positionen in die Verhandlungen gehen und den Fokus weg von nationalen Interessen, hin zu europäischen Lösungen lenken.

Ein weiteres wichtiges Thema: Flüchtlingsbewegungen. In der medialen Wahrnehmung ist es ruhiger um dieses Thema geworden. Chaotische Zustände in griechischen Flüchtlingslagern und immer noch viele Tote im Mittelmeer zeigen aber, es gibt keine tragfähige Lösung. Wie ist der Stand der Diskussion und wie sieht eine mögliche langfristige Lösung aus? [Anm. der Redaktion: Das Interview wurde bereits Ende August und damit vor den jüngsten Geschehnissen im Flüchtlingslager Moria geführt]

Die Corona-Krise hat dieses drängende Thema leider in den Hintergrund treten lassen. Die Situation in den griechischen Flüchtlingslagern ist aber unverändert katastrophal. Ich habe mich dazu bereits im März klar positioniert: Das letzte Maß der Menschlichkeit in der EU-Migrationspolitik darf sich nicht davonstehlen. Der Zugang zu einem geregelten Asylverfahren und menschenwürdiger Unterbringung muss gesichert werden. Damit das gewährleistet werden kann, brauchen wir eine neue europäische Asylgesetzgebung, die das dysfunktionale Dublin-Abkommen hinter sich lässt. Als Sozialdemokraten setzen wir uns daher sowohl für die Sicherheit der Geflüchteten als auch für eine solidarische Lastenverteilung in der EU ein. Rechtstaatlichkeit muss auch an der EU-Außengrenze gelten.

Die Situation in den griechischen Flüchtlingslagern ist unverändert katastrophal.

Jenseits des Asylsystems müssen wir bessere Möglichkeiten für eine reguläre, geordnete Migration schaffen. Ich freue mich daher über die vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen – von der Aktion Seebrücke bis zur EKD – die sich für die Humanität in Europa stark machen. Die nationalen Regierungen und auch die EU-Kommission hingegen zeigen zu wenig Bereitschaft, diese Herausforderung zu meistern. Einzelne staatliche Akteure wie die niedersächsische Landesregierung gehen aber mit gutem Beispiel voran. Die Evakuierung von 50 Jugendlichen war ein erster richtiger Schritt. Als Handelspolitiker ist es mir außerdem wichtig, die europäische Handelspolitik so zu gestalten, dass den Ländern des globalen Südens der wirtschaftliche Aufstieg gelingt und ökonomische Fluchtursachen bekämpft werden. Dazu müssen nicht nur Investitionen getätigt werden. Die EU muss sich z.B. auch für afrikanische Dienstleistungen öffnen. Wir müssen die Globalisierung fair gestalten, damit alle von ihr profitieren.

Für eine Lösung bei der Flüchtlingsfrage hat die EU in der Vergangenheit auch mit der Türkei zusammengearbeitet. Eine offensichtlich schwierige Partnerschaft mit einem zunehmend autoritären türkischen Präsidenten. In der Vergangenheit entstand sogar der Eindruck die EU sei erpressbar. Wie sollte man mit Ländern wie der Türkei oder Libyen in diesem Kontext umgehen?

Das Recht auf Asyl ist keine Verhandlungsmasse. Trotzdem setzt die Türkei es als solche ein. Das Europäische Parlament hatte im Kontext des EU-Türkei-Deals ausdrücklich vor solchen Erpressungsversuchen gewarnt. Alle Hebel der EU und der NATO müssen eingesetzt werden, um der Türkei klarzumachen, dass dieses fiese Spiel nicht aufgeht. Darüber hinaus trägt die Türkei mit ihrem Einmarsch in Syrien zur Entstehung von Fluchtursachen bei.

Die Türkei trägt mit ihrem Einmarsch in Syrien zur Entstehung von Fluchtursachen bei.

Es braucht daher eine UN-Mission, um das Leid in Syrien zu stoppen. Die Türkei erweist sich auch angesichts des Streits um die geplante Gaspipeline Eastmed im Mittelmeer als schwieriger Partner. Hier müssen für Europa drei Grundsätze gelten: 1. Die Sicherheit unserer Mitgliedstaaten garantieren. 2. Keine Erpressung zulassen. 3. Vermittelnd auf die unterschiedlichen Interessen einwirken, um das Säbelrasseln durch Verhandlungen zu ersetzen. Mit Blick auf Libyen gilt ebenfalls, dass Rechtstaat und Menschenrechte nicht der europäischen Abschottung zum Opfer fallen dürfen. Ein sicherer Zugang zu Asylverfahren und eine menschenwürdige Unterbringung können in Libyen nicht sichergestellt werden. Einen Deal wie mit der Türkei mit Libyen zu schließen, wäre daher absolut inakzeptabel.

Als SPD bilden wir im EU-Parlament eine Fraktion anderen sozialdemokratischen / sozialistischen Parteien. Was sind die verbindenden Werte und Elemente, die uns auch von anderen Fraktionen deutlich abgrenzen?

Die Fraktion der Sozialisten und Demokraten im Europäischen Parlament (kurz: S&D) wird vom gemeinsamen Einsatz für den sozialen Zusammenhalt in Europa getragen. Wir arbeiten Tag für Tag an einem demokratischen Europa, das seinen Bürger*innen im unruhigen Meer der Globalisierung Sicherheit bietet.

Wir wollen ein lebenswertes und gerechtes Europa für alle.

Ob ein europäischer Mindestlohn, ein solidarischer Wiederaufbau nach der Corona-krise, starke Rechte für Arbeitnehmer*innen oder ein Europäischer Green Deal, der unsere Industrie mit ihren vielen Arbeitsplätzen zukunftsfähig macht: Wir wollen ein lebenswertes und gerechtes Europa für alle. Während Europa als Markt längst zusammengewachsen ist, ist die Landschaft der sozialen Rechte immer noch ein löchriger Flickenteppich – sehen wir uns dazu nur einmal die Ausbeutung rumänischer Mitarbeiter in der Fleischindustrie an. Deshalb sind die Werte der europäischen Sozialdemokratie nach wie vor von außerordentlicher Relevanz. Europa, das große Ideal des Friedens und des gemeinsamen Fortschritts, gelingt uns nur mit gelebter Solidarität.

Nehmen wir mal an es ist die Silvesternacht 2020 / 2021, welche Wünsche hast Du im Hinblick auf Europa für das kommende Jahr?

Ich wünsche mir, dass die europäische Politik aus der Corona-Krise gelernt hat und von der akuten Krisenbewältigung zur Krisenprävention übergeht. Entscheidend ist dabei unsere Handelspolitik neu auszurichten. Unsere Lieferketten müssen stabiler und nachhaltiger werden. Das habe ich in meinem Impulspapier „Handelspolitik in Zeiten der Corona-Pandemie“ ausführlich beschrieben. Kostenminimierung darf nicht mehr das allesbestimmende Kriterium sein. Ein konkreter Wunsch wäre deshalb ein europäisches Lieferkettengesetz.

Unsere Lieferketten müssen stabiler und nachhaltiger werden.

Menschenrechte, Arbeitnehmer*innenrechte, Umweltstandards und Stabilitätskriterien in globalen Lieferketten wären dann nicht mehr eine Frage des guten Willens, sondern verpflichtend für alle Unternehmen, die den Zugang zum EU-Binnenmarkt behalten wollen. Als größter Markt der Welt würden wir damit großen Einfluss auf die Zukunft der Globalisierung nehmen. Darüber hinaus wünsche ich mir natürlich, dass im Jahr 2021 wieder Normalität – im persönlichen wie im politischen Alltag – einkehrt und wir wichtige Herausforderungen, die von der aktuellen Krise überdeckt werden, angehen können.


Das Interview haben wir exklusive für die Lupe geführt. Der SPD Ortsverein Aue plante für diesen Herbst eine Veranstaltung mit Bernd Lange. Die Planungen wurde aufgrund der unsicheren Corona-Lage leider erstmal gestoppt.

Philipp Ebeling